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Für das Individuum ist die Entdeckung der persönlichen Sterblichkeit ein Schock. Für die Spezies gilt das nicht. Sie muss nicht sterben.
Pardot Kynes, Eine Arrakis-Fibel
Von allen ökologischen Demonstrationsprojekten, die Pardot Kynes initiiert hatte, bedeutete ihm die Treibhaushöhle im Gipsbecken am meisten. Mit seinem Statthalter Ommun und fünfzehn hart arbeitenden Fremen bereitete Kynes eine Expedition dorthin vor.
Seine Pläne sahen gar nicht vor, dass er in der Höhle Pflanzungen leitete oder Inspektionen durchführte, aber er wollte einfach das fließende Wasser, die Kolibris, die Früchte und bunten Blumen sehen. Das alles repräsentierte seine Vision von der Zukunft Dunes.
Die Fremengruppe nahm einen Wurm, nachdem sie den sechzigsten Breitengrad überquert hatte, der die nördlichen bewohnten Regionen begrenzte. In all den vielen Jahren hatte Kynes niemals den Ehrgeiz besessen, selbst zu einem Sandreiter zu werden, daher errichtete Ommun auf dem Rücken des Wurms eine Sänfte für den Planetologen. Alte Frauen wurden auf diese Weise befördert, aber Kynes war es überhaupt nicht peinlich. Er musste niemandem etwas beweisen.
Vor langer Zeit, als Liet erst ein Jahr alt gewesen war, hatte Pardot seine Frau Frieth und ihr Kind zum Gipsbecken geführt. Frieth war eine Frau, die nur selten Erstaunen oder andere überschwängliche Gefühle zeigte, doch war sie sprachlos gewesen, als sie erstmals die Treibhaushöhle, das dichte Laub, die Blumen und die Vögel erblickt hatte. Kurz zuvor waren sie auf dem Weg zum zerklüfteten Berg mit der verborgenen Höhle von einer Harkonnen-Patrouille angegriffen worden. Frieth hatte mit der Schnelligkeit und Effektivität einer Fremen-Frau reagiert und das Leben ihres Mannes und Sohnes gerettet.
Kynes unterbrach seine Gedankengänge und kratzte sich den Bart. Er wusste gar nicht, ob er sich dafür jemals bei ihr bedankt hatte ...
Seit dem Hochzeitstag seines Sohnes, seit er von Liet wegen seiner Zerstreutheit und unabsichtlichen Gefühllosigkeit getadelt worden war, hatte Kynes sehr viel nachgedacht und versucht, eine Bilanz seines Lebens zu ziehen: seine Jahre auf Salusa Secundus und Bela Tegeuse, sein überraschender Ruf an Elroods Hof auf Kaitain, die zwei Jahrzehnte, die er hier als Imperialer Planetologe verbracht hatte ...
Er hatte seine Laufbahn der Suche nach Erklärungen und der Erkenntnis komplexer ökologischer Zusammenhänge gewidmet. Er verstand sehr viel von den Elementen einer Umwelt, von der Kraft des Wassers und der Sonne, von der Rolle der Bodenorganismen und des Planktons, der Flechten, der Insekten ... und wie all das mit einer menschlichen Gesellschaft zusammenhing. Kynes verstand, wie sich die Teile zusammenfügten, zumindest in genereller Hinsicht, und er gehörte zu den besten Planetologen des Imperiums. Man hatte ihn als ›Weltenleser‹ bezeichnet, was dazu geführt hatte, dass ihn der Imperator höchstpersönlich mit dieser wichtigen Aufgabe betreut hatte.
Aber wie konnte er noch als unbeteiligter Beobachter fungieren? Wie konnte er sich vom komplexen System der Interaktionen distanzieren, die jeden Planeten und jede Gesellschaft beherrschten? Auch er war ein Bestandteil des großen Plans, er konnte keine Experimente unter isolierten Laborbedingungen durchführen. Im Universum gab es niemanden, der ›außerhalb‹ stand. Die Wissenschaft hatte vor Jahrtausenden erkannt, dass jeder Beobachter den Ausgang eines Experiments beeinflusste ... und Pardot Kynes hatte zweifellos Einfluss auf die Entwicklung dieses Planeten genommen.
Wie hatte er das jemals vergessen können?
Ommun half ihm, vom Wurm zu steigen, als sie den restlichen Weg zum Gipsbecken zu Fuß gehen konnten, und führte ihn zum schwarz und grünlich gefärbten Felsgrat, in dem sich die Höhle befand. Kynes imitierte die unrhythmischen Gehbewegungen, bis ihm die Beine wehtaten. Er würde niemals zu einem richtigen Fremen werden, im Gegensatz zu seinem Sohn. Liet wusste alles über Planetologie, was sein Vater ihn gelehrt hatte, aber der junge Mann kannte sich außerdem in der Fremen-Kultur aus. Liet war der ideale Vermittler zwischen zwei Welten. Pardot wünschte sich nur, dass sie beide sich untereinander besser verstehen würden.
Mit ausholenden Schritten führte Ommun die Gruppe den Hang hinauf. Kynes war niemals in der Lage gewesen, den Pfad durch die Felsen zu erkennen, aber er versuchte, seine Stiefel in dieselben Ritzen und auf dieselben flachen Steine zu setzen wie sein Statthalter.
»Schnell, Umma Kynes!« Ommun reichte ihm seine Hand. »Wir dürfen nicht zu lange im Freien bleiben.«
Es war ein heißer Tag, und die Sonne ließ die Felsen glühen. Und er erinnerte sich, wie er mit Frieth geflüchtet war und eine Deckung gesucht hatte. Wie lange war das schon her?
Kynes trat auf einen breiten Sims und bog um eine Kante, bis er den getarnten Eingang mit dem Siegel sah, das verhinderte, dass die Höhle Feuchtigkeit verlor. Sie gingen hindurch.
Kynes, Ommun und die fünfzehn Fremen klopften sich den Staub der tagelangen Reise durch die Wüste von der Kleidung und den Temag-Stiefeln. Automatisch riss sich Kynes die Filterstopfen aus der Nase. Die anderen taten es ihm nach und inhalierten den außergewöhnlichen Duft nach Wasser und Pflanzen. Er schloss die Augen und genoss das Aroma aus Blüten, Früchten und Dünger, nach grünen Blättern und Pollen.
Vier der Fremen waren noch nie zuvor hier gewesen, und sie stürmten los wie Pilger, die endlich einen heiligen Schrein gefunden hatten. Ommun blickte sich um, atmete tief die Düfte ein und war stolz, von Anfang an Teil dieses bedeutenden Projekts gewesen zu sein. Er umsorgte Kynes wie eine alte Mutter und stellte sicher, dass der Planetologe alles hatte, was er benötigte.
»Diese Leute werden einen Teil der Arbeiter ersetzen«, sagte Ommun. »Wir haben kürzere Schichten eingeführt, weil dieser Garten nun fast aus eigener Kraft überleben kann – wie du vorhergesagt hast. Das Gipsbecken ist zu einem eigenen Ökosystem geworden. Jetzt müssen wir weniger Arbeit aufwenden, um für seine Gesundheit zu sorgen.«
Kynes lächelte stolz. »Genau wie es sein sollte. Eines Tages wird ganz Dune wie dieser Garten sein – ein System, das sich selbst erhält und selbst erneuert.« Er lachte kurz und schallend. »Und womit wollen sich die Fremen jetzt die Zeit vertreiben?«
Ommuns Nasenflügel bebten; sie waren vom ständigen Tragen der Filterstopfen schwielig geworden. »Dies ist noch nicht unsere Welt, Umma Kynes. Nicht bevor wir die verhassten Harkonnens losgeworden sind.«
Kynes blinzelte und nickte. Er dachte nur selten über die politischen Aspekte seines Projekts nach. Er hatte es bislang ausschließlich als ökologisches Problem betrachtet, nicht als menschliches. Noch ein Punkt, den er übersehen hatte. Sein Sohn hatte Recht. Der große Pardot Kynes hatte einen Tunnelblick; er sah über einen schmalen Pfad weit in die Zukunft ... doch die Gefahren und Irrungen entlang des Weges entgingen seiner Aufmerksamkeit.
Nichtsdestoweniger hatte er auf dem Gebiet der Ökologie Großes vollbracht. Er war der Initiator gewesen, er hatte angestoßen, was sich hoffentlich zu einer planetenweiten Lawine der Veränderungen entwickelte. »Ich möchte sehen, wie diese ganze Welt von einem Netz aus Pflanzen umwoben wird«, sagte er. Ommun gab ein wortloses Geräusch der Zustimmung von sich. Alles, was der Prophet Kynes sagte, war von Bedeutung und musste vom Gedächtnis der Fremen bewahrt werden. Sie drangen tiefer in die feuchte Höhle vor, um sich die Gärten anzusehen.
Die Fremen kannten ihre Pflichten und würden die Arbeit fortsetzen, auch wenn sie noch Jahrhunderte beanspruchte. Durch die lebensverlängernde Wirkung ihrer mit Melange gesättigten Nahrung war es sogar möglich, dass einige der Jüngeren noch erlebten, wie der große Plan Wirklichkeit wurde. Kynes war damit zufrieden, einfach nur die Anzeichen der Veränderung zu beobachten.
Das Gipsbecken-Projekt war eine Metapher für ganz Dune. Sein Plan war inzwischen so fest in der Kultur der Fremen verankert, dass er auch ohne seine Führung fortgesetzt würde. Dieses zähe Volk war von seinem Traum infiziert worden, und nun würde der Traum nicht mehr sterben.
Von nun an würde Kynes nur noch eine Galionsfigur sein, der Prophet der ökologischen Transformation. Er lächelte zufrieden. Vielleicht konnte er jetzt endlich seine Zeit nutzen, um die Menschen in seiner Umgebung kennen zu lernen – seine Frau, mit der er seit zwanzig Jahren verheiratet war, seinen Sohn, den er zu seinem Nachfolger bestimmt hatte ...
Tief in der Höhle begutachtete er Zwergbäume, die voller Zitronen, Limonen und süßer runder Orangen hingen, die als Portyguls bekannt waren. Ommun begleitete ihn und kontrollierte die Bewässerungssysteme, den Dünger und die Wachstumsfortschritte.
Kynes erinnerte sich, wie er Frieth bei ihrem ersten Besuch die Portyguls gezeigt hatte und wie glücklich sie gewesen war, als sie vom honigsüßen Fleisch der Orangen gekostet hatte. Es war eine der wunderbarsten Erfahrungen ihres ganzen Lebens gewesen. Jetzt starrte Kynes auf die Früchte und kam plötzlich auf die Idee, ihr ein paar davon mitzubringen.
Wann habe ich ihr das letzte Mal ein Geschenk gemacht? Er konnte sich nicht erinnern.
Ommun trat an eine Kalksteinwand und berührte sie mit den Händen. Der Fels war ungewöhnlich feucht und weich. Sein scharfer Blick folgte besorgniserregenden Mustern in den Wänden und der Decke, wo das Gestein aufgebrochen war.
»Umma Kynes«, sagte er. »Diese Risse machen mir Sorgen. Meiner Ansicht nach ist die Stabilität der Höhle ... äußerst kritisch.«
Vor ihren Augen erweiterte sich ein feiner Spalt und breitete sich wie ein schwarzer Blitz nach links und rechts durch den Fels aus.
»Du hast Recht. Wahrscheinlich lässt das Wasser den Fels aufquellen ... seit wie vielen Jahren nun schon?« Der Planetologe hob fragend die Augenbrauen.
Ommun rechnete nach. »Zwanzig, Umma Kynes.«
Mit einem lauten Knacken bildete sich ein großer Riss in der Höhlendecke ... gefolgt von weiteren, die sich wie in einer Kettenreaktion ausbreiteten. Die Fremen-Arbeiter blicken verängstigt auf, dann sahen sie sich zu Kynes um, als könnte der Mann die drohende Katastrophe irgendwie abwenden.
»Ich glaube, wir sollten alle Leute nach draußen schaffen. Und zwar sofort!« Ommun griff nach Kynes' Arm. »Wir müssen die Höhle evakuieren, bis wir sicher sind, dass keine Gefahr mehr droht.«
Ein noch lauteres Grollen schien tief aus dem Berg zu kommen, als sich zerbrochene Gesteinsbrocken verschoben und nach einer stabileren Lage suchten. Ommun zerrte am Planetologen, während die übrigen Fremen zum Ausgang hetzten.
Doch Kynes befreite sich aus dem Griff seines Statthalters. Er hatte sich fest vorgenommen, Frieth ein paar reife Portyguls mitzubringen, um ihr zu zeigen, dass er sie wirklich noch liebte ... obwohl er viele Jahre lang ein sehr unaufmerksamer Ehemann gewesen war.
Er eilte zum kleinen Baum und pflückte ein paar der Früchte. Ommun lief zurück, um ihn nach draußen zu bringen. Kynes hielt die Portyguls an seine Brust gedrückt und war froh, dass er diese wichtige Aufgabe nicht vergessen hatte.
* * *
Stilgar überbrachte Liet-Kynes die Nachricht.
In ihrem Sietch-Quartier saß Faroula mit ihrem Sohn Lietchih an einem Tisch und katalogisierte die Krüge mit Kräutern, die sie im Verlauf der Jahre gesammelt hatte. Sie prüfte die Wirksamkeit der Substanzen und versiegelte die Behälter anschließend mit Harz. In der Nähe seiner neuen Familie saß Liet-Kynes auf einer Bank und las in einem entwendeten Dokument, das eine Aufstellung der Militär- und Gewürzlager der Harkonnens enthielt.
Stilgar blieb abwartend stehen, die Hand am beiseite geschobenen Vorhang. Er starrte auf die gegenüberliegende Wand, ohne mit den tiefblauen Augen zu blinzeln.
Liet spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Er hatte an der Seite dieses Mannes gekämpft, Harkonnen-Lager geplündert und viele Feinde getötet. Als der Fremen immer noch nichts sagte, stand Liet auf. »Was gibt es, Stil? Was ist geschehen?«
»Etwas Schreckliches«, antwortete der Mann nun. Seine Worte waren wie Blei, das träge zu Boden tropfte. »Dein Vater, Umma Kynes, wurde beim Einsturz der Höhle im Gipsbecken getötet. Er und Ommun sowie der größte Teil der Arbeiter konnten nicht rechtzeitig entkommen, als die Decke zusammenbrach. Der Berg hat sie unter sich begraben.«
Faroula keuchte. Liet fühlte sich mit einem Mal all seiner Worte beraubt. »Aber das kann doch nicht sein«, sagte er schließlich. »Er hatte noch so viel Arbeit vor sich. Er hatte ...«
Seine Frau ließ einen Krug fallen. Er zerbrach und verstreute die pulverisierten grünen Blätter in einer duftenden Wolke über den Boden. »Umma Kynes ist zwischen den Pflanzen gestorben, die sein Traum waren«, sagte sie.
»Ein angemessenes Ende«, sagte Stilgar.
Liet war eine ganze Weile sprachlos. Gedanken wirbelten in seinem Kopf umher, Erinnerungen und Wünsche, und er wusste, dass Pardot Kynes' Arbeit fortgesetzt werden musste.
Der Umma hatte seine Schüler gut ausgebildet. Liet-Kynes würde an der Vision weiterarbeiten. Er dachte an das, was Faroula gesagt hatte, und konnte bereits erkennen, wie sich die Geschichte vom tragischen Märtyrertod des Propheten unter den Fremen ausbreiten würde. Und sie würde mit jeder neuen Erzählung größer werden.
Ein angemessenes Ende, in der Tat.
Er erinnerte sich an etwas, das sein Vater einmal zu ihm gesagt hatte. »Die Symbolik eines Glaubens kann wesentlich länger als der Glaube selbst überleben.«
Stilgar sagte: »Es war uns nicht möglich, das Wasser der Toten für unseren Stamm einzusammeln. Zu viel Stein und Erde bedeckte die Leichen. Wir müssen sie in diesem Grab ruhen lassen.«
»So ist es richtig«, sagte Faroula. »Das Gipsbecken soll eine heilige Grabstätte sein. Dort starb Umma Kynes mit seinen Anhängern und gab das Wasser seines Körpers der Welt, die er liebte.«
Stilgar kniff leicht die Augen zusammen und betrachtete Liet. »Wir werden nicht zulassen, dass die Vision des Umma mit ihm stirbt. Du musst seine Arbeit fortsetzen, Liet. Die Fremen werden dem Sohn des Umma folgen und seinen Befehlen gehorchen.«
Benommen nickte Liet-Kynes und fragte sich, ob seine Mutter bereits davon erfahren hatte. Er versuchte, tapfer zu sein und reckte die Schultern, als er sich der tieferen Konsequenzen bewusst wurde. Jetzt würde er nicht nur wie bisher der Verwalter des Terraformungsprojekts sein, sondern es kam eine viel größere und weiter reichende Verantwortung hinzu. Sein Vater hatte die Dokumente schon vor langer Zeit an Shaddam IV. geschickt, der den Antrag ohne Einschränkungen genehmigt hatte.
»Jetzt bin ich der Imperiale Planetologe«, gab er bekannt. »Und ich schwöre, dass die Verwandlung Dunes weitergehen wird.«